Texte & Bilder

Oben: Herbstwiese, 30x30 cm, 2018; Touw River, 40x30 cm, 2018; Walisische Landschaft II, 49x29 cm, 2019; Porthgain Harbour I, Wales, 34,5x25,5 cm, 2021  (alle Acryl auf Karton)

Unten: Dorf am Tarn,  30x40 cm, 2017; Pilgrim Monument, 30x30 cm, 2017; Monbijou-Park in der Dämmerung, 30x40 cm, 2022; Wanderdüne bei Leba, 24,5x34,5 cm, 2023 (alle Acryl auf Karton)

 

 

Literarische Texte

Nicht jede Welt hat so viel Glück [*]

Dem Friedensforscher und Literaturdidaktiker Werner Wintersteiner
und dem Marineoffizier Wassili Alexandrowitsch Archipow

„The future, in fiction, is a metaphor.“

Ursula K. LeGuin [**]

1          Breslau, Arletiusstraße, 25. Februar 2028

Die Direktorin räuspert sich, schiebt die Unterlagen auf ihrem Tisch ein Stück von sich und sagt: „Im Namen des Kultusministers der Autonomen Republik Schlesien schlage ich vor, dass auch unser Elisabet-Gymnasium den 10. April 28 würdig begeht und die sechzigste Wiederkehr des Friedensvertrags von Teneriffa angemessen feiert. Bedenken Sie dabei auch, dass es unsere Schule ohne diesen Frieden gar nicht gäbe, und unser Land im Übrigen auch nicht. Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Tag.“

Man steht so schnell auf, als habe sie ein Kommando zur Evakuierung gegeben. Binnen einer Minute ist das Lehrerzimmer beinahe verlassen. Nur die Direktorin sortiert ihre Unterlagen, und ich sitze noch da, als sei ich zu schwer zum Aufstehen. Ich muss vielleicht für immer hier sitzenbleiben, wenn ich jetzt nicht etwas sage.

„Bitte, darf ich Sie etwas fragen?“ bringe ich hervor. Ich bin seit fünfzehn Jahren an der Schule und hatte bisher nie größere Probleme mit der Schulleitung. Auch das Kollegium hat mich damals wohlwollend aufgenommen. Keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass ich kein Schlesier bin, sondern von westlich der deutschen Grenze komme, aus der Lausitz. Ich habe nicht, wie fast alle andern hier, in Breslau studiert, oder in Krakau. Ebenso wie Zusanna und Bartosz, die die polnische Minderheit in ihrer Muttersprache unterrichten, bin ich Ausländer und muss immer noch achtgeben, was ich sage. Ich bin aber auch Lehrkraft für Deutsch und Geschichte und nicht, wie die Direktorin, für Mathematik und Physik. Etwas muss ich sagen.

Sie sieht mich fragend an.

„Ich will das Ministerium nicht kritisieren“, sage ich vorsichtig, „und auch nicht das Oberschulamt von Niederschlesien. Aber das Wort feiern scheint mir nicht recht zu passen.“

Bedächtig verstaut die Direktorin ihr japanisches Tablet in der Tasche auf dem Stuhl neben ihrem. Sie kann das machen. Mir muss die Tasche vor der Nase stehen. Schließlich sagt sie: „Warum nicht? Im April 1968 wurde ein Frieden geschlossen, der seither nie wieder gebrochen worden ist.“

Ich nicke. Von wem auch? Die zwei Weltmächte, die den Krieg aus Versehen begonnen hatten, waren wirtschaftlich ruiniert, moralisch diskreditiert und jahrzehntelang damit beschäftigt, Menschen umzusiedeln und Landstriche zu dekontaminieren. Selbst die zwischen 1963 und 1970 angelegten Friedhöfe, habe ich gelesen, mussten später zu Sperrgebieten erklärt werden, weil sie zu stark verstrahlt waren. Aber davon haben die Schlesier wenig mitbekommen. Sie liegen im Windschatten der Geschichte. Und es gibt ja auch nicht viele Ausländer hier. An meiner Universität in Dresden habe ich Politische Geschichte bei einem jungen Professor gehört, der in Kuba geboren wurde, als es Kuba noch gab.

Die Direktorin steht auf, nimmt ihre Tasche und wendet sich zur Tür. Anscheinend hält sie meine Frage schon für beantwortet.

„Warum wurde der 20. Oktober 2013 nicht begangen?“

Unwillig hält sie in der Bewegung inne und wendet sich mir wieder zu. „Jetzt machen Sie sich nicht lächerlich, Herr Kollege. Wie hätte man denn den Ausbruch des Dritten Weltkriegs begehen sollen?“

„In New York und St. Petersburg haben sie …“ Weiter komme ich nicht, denn die Geduld meiner Vorgesetzten geht zu Ende. Wie ich schon befürchtet habe, beginnt sie zu schreien: „Weder Polen noch Deutsche haben diesen verfluchten Krieg angefangen, und wir Schlesier schon gar nicht!“ Etwas leiser fügt sie hinzu: „Ich habe nichts dagegen, dass sich die Regierungen der Verursacherländer dann und wann damit beschäftigen. Guten Tag.“

Die Verursacherländer, denke ich, während ihre Absätze den Flur hinunterklappern, gibt es nicht mehr. Weder die Sowjetunion[1] noch die USA[2] haben das überlebt. Trotzdem empfingen im Oktober 2013 – es war mein erstes Schuljahr in der ARS – die Präsidentin der Republik Ostamerika in New York und der russische Präsident in Petersburg jeweils eine Delegation des anderen Landes. Die Delegationen bestanden aus Leuten, die den Kriegsausbruch als kleine Kinder überlebt hatten und an den Folgen noch nicht gestorben waren. Es muss nicht ganz einfach gewesen sein, genügend von ihnen zu finden. Mein verstrahlter Vater (Dosis etwa 2 Sv, leicht- bis mittelgradig) wäre damals 53 gewesen, wenn er nicht mit 26 gestorben wäre. Erinnern kann ich mich kaum an ihn, ich war ja erst zwei.

Ich schlüpfe mit dem Kopf durch die Taschenschlinge, stehe endlich auch auf und verlasse den Raum als letzter. Langsam gehe ich durch das lichte Treppenhaus mit den wunderbaren hohen Fenstern hinunter auf die Straße. Nein, denke ich, das mit dem Windschatten der Geschichte stimmt nicht so ganz. Die Wahrheit, mit dem bösen Blick eines verkrüppelten Sorben betrachtet, ist wohl eher die, dass die Schlesier neben den Deutschen vielleicht das einzige Volk der Welt sind, das vom Dritten Weltkrieg einen Vorteil hatte. Auflösung des Warschauer Pakts, Zerschlagung des Sowjetimperiums, Vereinigung Deutschlands und Widerruf der Westverlegung Polens, wie die Siegermächte des vorletzten Weltkriegs sie ausgehandelt hatten. Alles im Vertrag von Teneriffa. Und auf einmal war auf der Europakarte Platz für eine Republik Schlesien. Schon lange vorher hatten die Schlesier es satt immer wieder gesagt zu bekommen, was sie grade sein sollten: preußisch oder österreichisch, deutsch oder polnisch.

Den wässerigen Schnee von heute Morgen hat die Februarsonne mittlerweile in eine matschige Sauerei verwandelt, durch die ich zur Haltestelle tappe und die Bahn gerade so kriege. Ich nicke dem Fahrer zu, der die Tür offengehalten hat. Breslau ist wahrscheinlich dereinst die vorletzte Landeshauptstadt auf diesem Kontinent, die eine selbstfahrende Stadtbahn einführt. Danach kommt bloß noch Tirana. Auf meinem Schienenweg durch die Innenstadt liegen einige der Langzeitbaustellen, die die Schlesische Regierung mit zu vielen Worten und zu wenig Geld betreibt. Seit keine Kohle mehr gefördert wird, ist in Oberschlesien auch die Stahlproduktion zum Erliegen gekommen, und die Republik hat kaum Mittel für die Modernisierung von egal was. Wir haben uns daran gewöhnt, ein rückständiges, liebenswertes, von ein bisschen alternativem Tourismus lebendes Ländchen zu sein. Aber heute sehe ich die Baustellen anders als sonst. Wenn man bedenkt, dass es da teilweise immer noch um Folgeschäden des vorletzten Weltkriegs geht, kann man unsere Direktorin beinahe verstehen. 1945 haben die Deutschen einen Teil der Altstadt planieren lassen, um eine Landebahn anzulegen. Was dabei nicht zerstört worden war, wurde dem Erdboden gleichgemacht, als die Nazis ihre sogenannte Festung gegen die Rote Armee verteidigen wollten. Unter den zwanzigtausend zerstörten Gebäuden haben sich vierhundert bedeutende Baudenkmäler befunden. Und während in westdeutschen Städten bis zum Ausbruch des Dritten Weltkriegs mit Hilfe des sogenannten Wirtschaftswunders die gröbsten Schäden beseitigt werden konnten, ist hier im damaligen Polen die kurze Zwischenkriegszeit kaum genutzt worden. Dann kam der Zusammenbruch der Weltwirtschaft im Dezember 63. Es gibt allerdings inzwischen Historiker, die den ganz offen für ein Glück halten. Wer weiß, ob der Krieg sonst nicht noch mehr Städte von der Landkarte gelöscht hätte? Chicago, Frankfurt am Main, Habana, Izmir, Kaliningrad, Kiew, London, Moskau, Boston, Rotterdam, Washington DC, Wladiwostok. Im Vergleich zu all denen ist das baufällige Breslau, das nach dem vorletzten Weltkrieg immerhin noch zehntausend Häuser übrig hatte, eine blühende Stadt. Aber wie soll ich das alles meinen Schülern erklären, von denen sich die meisten unter den anderen Namen überhaupt keine Städte vorstellen können?

Acht Wochen habe ich noch, um eine Antwort darauf zu finden. Aber noch dringender muss ich fürs Abendessen einkaufen.

 

2             Dresden-Albertstadt, 10. April 2028

Das Jubiläum – beziehungsweise das, was wir „feiern“ sollen – ist gleich nach Ende der Osterferien. Ich habe die Ostertage genutzt, um meine Mutter zu besuchen und dann nach Dresden weiterzufahren. In der Sächsischen Landesbibliothek kenne ich mich noch heute besser aus als in den Bibliotheken von Breslau, und ich habe nicht viel Zeit für die Vorbereitung. Nicht nur hat man die vertrauensvoll in die Hände der Fachschaft Geschichte gelegt, was zu erwarten war, sondern diese hat es in einer Sitzung Anfang März fertiggebracht, mich in diese Aufgabe hineinzuloben. Ich ärgere mich seit vier Wochen darüber, dass ich das zugelassen habe. Jetzt sitze ich in dem alten Büchersaal, den E-Griffel im Mund, und puzzle auf meinem Schreibgerät den Hergang der Dinge zusammen. An demselben Tisch, an dem ich für mein Buch über Das Glück des Scheiterns zehn Jahre recherchiert habe, ohne es je zu schreiben, schiebe ich durch Bewegungen des Oberkörpers mit meinen lächerlichen Händchen dran zeitgeschichtliche Handbücher hin und her, die mir eine nichtbehinderte Bibliothekskraft freundlicherweise gebracht hat und die hoffentlich etwas mehr darüber wissen als das Geschichtsbuch, das an meiner Schule in Gebrauch ist.

Ich habe vier Überschriften notiert (in meiner Elften, die fünfzehn Schüler hat, kann ich höchstens vier Arbeitsgruppen bilden) und sortiere jetzt, was ich dazu finden kann.

Ausgangssituation

Anfang 1960 lagern die USA auf dem Gebiet der damaligen Bundesrepublik Deutschland zehn verschiedene atomare Waffentypen, die meisten mit größerer Sprengkraft als die Bomben von Hiroshima und Nagasaki. In der DDR wiederum haben die Sowjets bis Kriegsausbruch ca. 30 Lager für atomare Sprengköpfe von Kurz- und Mittelstreckenraketen angelegt. Auch für atomare Bomben, die mit Flugzeugen an ihr Ziel transportiert werden sollten. Wahrscheinlich waren in der DDR zu Beginn des Dritten Weltkriegs mehr als 1.000 atomare Waffen eingelagert. Schwer zu sagen, wie viele davon im Krieg gegen die USA und ihre Verbündeten zum Einsatz kamen. Ein Teil wurde wohl bei den konventionellen Angriffen zerstört, zu denen die Kriegsgegner ab Herbst 1963 übergingen, als ihre technischen und infrastrukturellen Möglichkeiten zur Fortsetzung des Atomkriegs erschöpft waren.

Im Oktober 1961 zünden die Sowjets die "Zarenbombe", mit 4000x der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Die USA antworten im Juli 1962 mit der Zündung der 1. Atombombe im Weltraum: In 400 km Höhe südwestlich von Johnston Island im Pazifischen Ozean wird "Starfish Prime" zur Explosion gebracht, mit einer Sprengkraft von 1450 Kilotonnen TNT (zum Vgl: die Hiroshima-Bombe hatte max. 20 TNT). Die Zündung in einem der nach dem amerik. Wissenschaftler James van Allen benannten Gürtel aus Teilchen kosmischer Strahlung erzeugt ein gewaltiges künstliches Polarlicht, mehrere 1000 km weit zu sehen. Dem folgt ein ebenso gewaltiger elektromagnetischer Puls, der in Stärke und Ausdehnung alle Erwartungen übertrifft. Im hunderte km entfernten Hawaii fallen Strom und Telefone aus. Im All sind 6 Satelliten so schwer beschädigt, dass sie sofort oder wenig später funktionsuntüchtig werden.

Verlauf

Der von Okt. 62 bis Jan. 63 zwischen den beiden damaligen Weltmächten geführte Krieg zog weitere Länder als „Verbündete“ stark in Mitleidenschaft. Abgesehen vom zwangsverbündeten Kuba, gegen das sich der amerikanische Erstschlag richtete, wurden 1963 auf europ. Seite vor allem der NO Deutschlands, der N Polens und Teile der heutigen Tschech. Rep. zum Ziel von Angriffen, die vermutete oder reale Abschussbasen zerstören und militärisches Gerät vernichten sollten. Auf westl. Seite wurden Schlüsselbetriebe der Schwerindustrie nicht nur im NO der USA, sondern auch in GB teils atomar, teils konventionell angegriffen und zerstört. Die Bombardierung von Rotterdam und Frankfurt am M. vorwiegend durch Phosphor- und Napalmbomben (sog. Brandbomben) im Feb. 64 leitete die postnukleare Phase des Krieges ein und sollte die Nachschubwege der Amerikaner treffen. V.a. aber machte sie Deutschland und die Niederlande zu aktiven Verbündeten der USA. Fast gleichzeitig sorgte der letzte sowjetische Atomangriff, derjenige auf die US-Basis im türkischen Izmir, für einen weiteren Verbündeten und damit indirekt für eine Verlängerung des Krieges über die atomare Anfangsphase hinaus.

 

Kriegsfolgen

In Eurasien und Amerika verheerend. Die Zahl der Atomkriegstoten nach 20 Jahren wurde in den 80er Jahren auf ½ Milliarde geschätzt. 12 Metropolen ausgelöscht; die 10, die Ziele eines Atomschlags waren, für Jahrzehnte unbewohnbar. Das Ausmaß der Zerstörung und die Zahl der sofort getöteten oder später nach und nach sterbenden Menschen ist auch in der ehem. Sowjetunion beträchtlich, weil die USA nach den atomaren Angriffen auf Washington, NY und Chicago ihre Strategie änderten und ebenfalls Atombomben in einer Bersthöhe von 500 m zündeten (Moskau, Kiew, Wladiwostok). Meist 10-Megat.-Bomben, die in einem Radius von 30 km alles verbrennen. Die radioaktive Strahlung verseucht das Grund- und Oberflächenwasser in einem Umkreis von jeweils mehr als 1000 Qukm. Die Rückstandsstrahlung hat viele Jahre Zeit, die Zellstruktur und das Erbgut der Überlebenden zu schädigen. Während die akute Strahlenkrankheit innerhalb von zwei bis drei Wochen zum Tod führt, wenn sie nicht behandelt wird, äußert sich die chronische Strahlenkrankheit in einer generellen Abnahme der Leistungsfähigkeit inf. untersch. Organschäden, damit Funktionsverluste u. chron. Immunschwäche. Krebsrisiko deutl. erhöht.

Mein Vater hat nicht auf den Krebs warten müssen. Er hat diesen Krieg um einundzwanzig Jahre überlebt, um dann an einem Schnupfen zu sterben.

Wahrscheinlichkeit von Missbildungen i. d. nächsten Generation … das brauche ich nicht zu übernehmen, das wissen meine Schüler sowieso. In den Klassen und im Lehrerkollegium des Elisabet-Gymnasiums wird die von Statistikern für das ehemalige Kampfgebiet errechnete Quote von knapp 40% missgebildeter Menschen nicht ganz erfüllt, weil Niederschlesien am Rand dieses Gebietes liegt. Aber 30% sind auch eine Zahl.

Ursachen

  • Kuba-Krise als unmittelb. Anlass
  • Rüstungswahn d. Kalten Krieges als tieferliegende Urs.
  • „Gleichgewicht des Schreckens“
  • Wahrscheinlichkeit d. Einsatzes angehäufter Waffen

Ich bin jetzt nur noch zu Stichpunkten imstande, und schließlich breche ich erschöpft ab. Das, was ich zu dieser letzten Überschrift finde, weiß ich sowieso. Und trotz der fortgeschrittenen japanischen Elektronik in unseren zahlreichen Hilfsmitteln für Behinderungen aller Art finde ich den Umgang mit Schrift immer anstrengend. Ich packe alles zusammen und winke einem Angestellten, damit er mit seinem Wagen kommt und die Bücher wieder mitnimmt. Ich glaube auch, es reicht. Da die einzige Weltmacht seit Jahrzehnten China heißt, würde meinen Schülern ein „Gleichgewicht des Schreckens“ sowieso nicht einleuchten.

Ich muss gehen, ich habe noch einen wichtigen Weg vor mir.

 

3               Breslau, Arletiusstraße, 24. April 2028

Die Aula ist so voll wie selten. Selbst solche Lehrer und Schüler, die vielleicht mit der Möglichkeit gespielt haben, der verordneten Feier fernzubleiben, sind gekommen. Auch Zusanna und Bartosz, die noch an einer zweiten Breslauer Schule Polnisch als Muttersprache unterrichten, haben sich an diesem Tag für unsere entschieden. Ich bin an einem der beiden Eingänge stehengeblieben, und Enrico Juárez, der mir die Hand auf die Schulter gelegt hat, spürt, dass er anhalten soll. Er hört sicherlich auch, dass der Raum groß ist und eine Menge Menschen schon darin sind. „Wir gehen jetzt zwölf Stufen hinunter“, sage ich halblaut. Er nickt und murmelt: „I see said the blind man.“ Der Krüppel führt den Blinden. Als wir uns vorsichtig die abgetreppte Schräge hinunterbewegen, wird das Gemurmel schwächer, und während ich unten mit den Beinen den vorgesehenen Stuhl hinter Juárez schiebe und ihm zuflüstere, er könne sich setzen, verstummt es ganz. Der kleine alte Mann mit der schwarzen Brille, das ist nun der angekündigte dreiundsiebzigjährige Zeitzeuge. Ich nehme ebenfalls meinen Sitzplatz ein und werfe einen Blick auf die große Uhr an der Rückwand der Aula. „Drei Minuten,“ sage ich leise. Er nickt. Um die Zeit zu überbrücken, erzähle ich ihm, dass diese Schule eine lange Tradition als Lateinschule hatte, bevor man sie 1945 schließen musste, weil Breslau polnisch wurde. Und dass die Schlesische Regierung sie 1969 als erstes deutschsprachiges Gymnasium überhaupt wiedereröffnet hat. Währenddessen schweift mein Blick durch das Auditorium auf der Suche nach den Schülern meiner Klasse, mit der ich das jetzt folgende Gespräch vorbereitet habe, und bleibt an Marie hängen. Ein hübsches Mädchen, dem man keine Behinderung ansieht. Auf sie werde ich achten müssen; die letzten vierzehn Tage waren schwierig für sie. Sie hat Shriver in einer mittleren Ausprägung. Also EES, das extreme empathy syndrome, nach der kanadischen Psychologin Marjorie Shriver, die die Krankheit als erste beschrieb. Mitte der 70er Jahre tauchten in nordamerikanischen Wartezimmern die ersten Jugendlichen und jungen Erwachsenen auf, die völlig erschöpft und verstört von der Erfahrung berichteten, beim Anblick behinderter, leidender oder niedergeschlagener Menschen von Gefühlen der Lähmung, des Schmerzes oder unendlicher Traurigkeit überwältigt zu werden. Shriver hat zwanzig Jahre gebraucht, um in der scientific community die Einsicht durchzusetzen, dass EES keine gewöhnliche Depression ist und schon gar keine Modekrankheit, sondern eine neuartige mental disorder. Irgendwelche Spiegelneurone spielen verrückt. Es gelang ihr schließlich, als die ersten gesicherten EES-Diagnosen aus Russland und Ostdeutschland gemeldet wurden. Inzwischen gibt es seriöse Studien, denen zufolge die Auftretenswahrscheinlichkeit für Shriver im ehemaligen Kampfgebiet des Atomkriegs diesseits und jenseits des Atlantiks etwa fünfzig Mal höher ist als in Skandinavien oder Australien. Die Opfer waren selten Überlebende, sondern meist deren Kinder (Maries Mutter hat ebenfalls Shriver) und inzwischen auch Enkel.

Marie unterhält sich mit Johannes und scheint guter Dinge zu sein. Beruhigt löse ich den Blick von ihr und murmle: „Es ist acht, Herr Professor.“

Er nickt. „¡De acuerdo, chico! Bringen wir’s hinter uns.“

Chico. So hat mich ewig niemand mehr genannt. Wir haben verabredet, dass ich ihn als emeritierten Professor aus Dresden begrüßen und zunächst um eine Beschreibung der Umstände des Kriegsausbruchs aus der Sicht der Politikwissenschaft bitten werde, und dann um eine Würdigung der Friedensverhandlungen (darauf hat die Direktorin bestanden) zwischen 1965 und 68. Auf keinen Fall - ¡pues no! – will Juárez als Kriegsopfer vorgestellt werden, und Fragen nach seiner kubanischen Heimat wird er ausweichen. Über die Geisterinsel in der karibischen See wird er nicht sprechen. Das ist kein Problem, solange ich ihn interviewe, aber wenn das Publikum Fragen stellen darf, kann es eines werden.

Zunächst geht alles gut. Die Direktorin hält ihre Ansprache. Geschichte der Autonomen Republik Schlesien Erziehungsauftrag der allgemeinbildenden Schule Präambel des Lehrplans Sicherung des Weltfriedens ältestes Gymnasium Schlesiens heutiger Tag besonderer Verantwortung bewusst. Dass das doppelt so lange dauert wie verabredet, also gut zehn Minuten, habe ich vorausgehen. Man kennt einander. Weil ich darauf bestanden habe, dass nicht sie den Gast vorstellt, sondern ich, übergibt sie mir dann doch das Wort, indem sie mich als den Moderator des Abends vorstellt. Ich muss aber noch warten, bis das Streicherquartett der Schule gespielt hat. Etwas Klassisches. Franz Schubert, Streichquartett Nr. 14, d-moll, Der Tod und das Mädchen, erster Satz: Allegro, steht im Programm. Ob das eine gute Idee war, weiß ein Historiker nicht. Um die musikalische Umrahmung habe ich mich sowieso nicht gekümmert. Die vier Oberstufenschüler haben seit Monaten geübt, betreut von unserer Musiklehrerin, um die ich vor fünfzehn Jahren vergeblich geworben habe. Sie sitzt in der ersten Reihe und hat ihre Schüler genauso im Blick wie ich meine. Vorhin, als wir das Podium betreten haben, habe ich ihr kurz zugenickt.

Als das Stück endet, brandet Applaus auf. Die vier Musiker verbeugen sich und treten ab. Ich begrüße meinen Professor mit seinem Namen und Titel, erwähne seine letzte Funktion als Leiter des Instituts für Internationale Politikgeschichte an der Universität Dresden und zähle einige wichtige Veröffentlichungen und Ehrungen auf. Dann stelle ich die erste Frage, die nach der globalen Lage vor Kriegsausbruch. Als sei er im Hörsaal, steigt er sofort ein:

„In den 1950er Jahren blufft die Sowjetunion die Weltöffentlichkeit mit der Behauptung, sie verfüge über Atomwaffen mit interkontinentaler Reichweite. Tatsächlich gelingt erst Ende 1959 der technische Durchbruch.“

„Wie sollen wir uns den vorstellen?“

„Ein Flügelgeschoss fliegt von Astrachan zum 1.800 Kilometer entfernten Balachaschsee in Kasachstan, wendet dort selbständig und geht plangemäß in der Nähe des Startpunktes nieder.“

„Damit ist die Interkontinentalrakete einsatzfähig, mit der der damalige Erzfeind USA bedroht werden soll?“

„Nun ja, bedingt. Zwar verfügt die Sowjetunion 1960 über vier Abschussrampen für die R-7, also die erste Interkontinentalrakete. Für Kampfeinsätze ist die aber noch gar nicht besonders geeignet. Darauf kommt es allerdings auch nicht an. Sie ist eine Propagandawaffe des Kalten Krieges, und zwar eine so wirksame, dass die USA durch Spionageflüge und den Einsatz von Aufklärungssatelliten die Lokalisierung der geheimen Abschussbasen betreiben.“

„Inwiefern ist das wichtig für den späteren Kriegsverlauf?“

„Sie hatten damit Angriffsziele für Erst- und Vergeltungsschläge ermittelt und glaubten sich in einem Vorteil, den es de facto gar nicht gab. Im Dezember 1960 wurde in Washington ein militärischer Plan beschlossen, der unter dem Codenamen SIOP 62 den Einsatz von mehr als dreitausend US-Atomwaffen gegen eintausend Ziele im kommunistischen Block innerhalb der ersten paar Stunden eines Atomkrieges vorsah. ‚First use‘ wurde erklärter Bestandteil der NATO-Strategie.“

„Was bedeutete ‚first use‘ genau?“

„Die Möglichkeit, Atomwaffen als erste einzusetzen.“

„Wie sahen das die Sowjets in Moskau? – Damals die russische Hauptstadt und das Zentrum des Sowjetreichs“, füge ich sicherheitshalber hinzu, ans Auditorium gewandt. Wir reden ja von einer Stadt, die es nicht mehr gibt.

„In Moskau sah man das anders. In der sowjetischen Militärdoktrin galt der Einsatz nuklearer Waffen viel realistischer als Beginn eines allesvernichtenden Weltkrieges.“

„Dann hätten sich die Sowjets am Wettrüsten eigentlich gar nicht beteiligen dürfen?“

„Das ist richtig, aber sie taten es im Glauben an die Abschreckungswirkung teils realer, teils nur vorgetäuschter Kilo- und Megatonnen.“

„Welcher Teil war denn real?“

„Es hätte gereicht“, erwidert Juárez trocken. „Auf Kuba lagerten echte. Und was auch in Moskau nur ganz wenige wussten: Es gab vier sowjetische U-Boote, die mit Nukleartorpedos ausgerüstet waren.“

„Also hätten beide Seiten jederzeit zuschlagen können?“

„Beide damaligen Weltmächte waren in einer Situation, in der sie abwägen mussten, wann der Einsatz all dieser angehäuften Zerstörungskraft ihnen am meisten Vorteil bringen würde. Die Frage, wer zuerst eine Bombe einsetzen würde, war eigentlich die Frage, wer als erster die Nerven verliert.“

„Wieso zündeten die Amerikaner eine Bombe im Weltall? Spricht das für gute Nerven?“

„Durchaus. Der Test im Van-Allen-Gürtel erbrachte den Beweis, dass sich mit einer einzigen Kernexplosion im All ein riesiges Gebiet außer Gefecht setzen lässt, und bildete die Grundlage für die Kampfstrategie der USA im Atomkrieg ab Oktober 62. Der Angriff auf Kuba erschien vor diesem Hintergrund als tragbares Risiko.“

„Wieso?“

„Die Sowjets hatten dem, abgesehen von den vier U-Booten, wenig Gleichwertiges entgegenzusetzen und mussten sich darauf beschränken, mit atomar bestückten Interkontinentalraketen mehr oder weniger exakt Ziele in Nordamerika anzusteuern. Für diesen Fall hatte sie zwar bereits 58 mit der Stationierung nuklearfähiger Trägersysteme auf dem Territorium ihrer Verbündeten begonnen, aber sie mussten befürchten, dass im Ernstfall die USA viele dieser Systeme sofort ausschalten würden und das verbleibende Pulver schnell verschossen wäre.“

„Was ja auch so war?“

Der Professor antwortet so schnoddrig, wie ich ihn von früher kenne. „Der Vorrat hat trotz einiger Rohrkrepierer immerhin gereicht, drei amerikanische Großstädte auszulöschen.“

„Nicht zu vergessen das türkische Izmir!“

„Ja. Dort hatten die Amerikaner Atomraketen stationiert. Izmir war die Rache für Habana.“

Ich habe zwar das Gespräch noch gar nicht für das Publikum geöffnet, aber ein mir unbekannter Zehntklässer meldet sich.

„Herr Professor, wie viele Opfer hat der Dritte Weltkrieg gekostet?“

Juárez antwortet knapp und sachlich. „1962 betrug die Weltbevölkerung etwa 3,1 Milliarden. 68 waren es noch 2,6.“

„Also ist eine halbe Milliarde umgekommen?“

„Du kannst rechnen. Das ist gut. Du solltest aber nicht glauben, ohne den Dritten Weltkrieg hätte unser Planet 1968 3,1 Milliarden Menschen beherbergt. Bevölkerungswissenschaftler haben das Wachstum im Frieden hochgerechnet und gehen davon aus, dass es ohne den Krieg zum Zeitpunkt des Friedensvertrags etwa 3,6 gewesen wären.“

„Und wie viele wären es denn dann heute?“ fragt der Schüler nach.

„Schwer zu sagen. Zwischen acht und neun Milliarden.“

„Aber dann würden wir alle hungern!“

Der Professor denkt einen Augenblick nach, zumindest erweckt er den Eindruck. „Nicht so schnell“, sagt er dann. „Ihr müsst bedenken, dass ohne diesen Krieg nicht Hunderttausende Quadratkilometer Trinkwasser verseucht wären und die Infrastrukturen in den Kornkammern Nordamerikas, Russlands und der Ukraine vielleicht so gut entwickelt, dass die Menschen genügend Nahrung produzieren könnten.“

„Gesunde Menschen, gesunde Nahrung“, werfe ich trocken ein. „Aber sprechen wir von den Friedensverhandlungen. Was war daran so schwierig, dass sie drei Jahre gedauert haben?“

Juárez gibt ein Grunzen von sich, das man als Zeichen der Belustigung deuten würde, wenn das Thema nicht so ernst wäre. „Es war ja kein normaler Krieg, also waren es auch keine normalen Friedensverhandlungen.“

Ich weiß, was jetzt kommt, aber ich frage bewusst naiv nach. „Was wäre denn normal?“

„Normal wäre, dass eine Seite kapituliert und die dann für die Kriegskosten aufkommen muss. Dafür kennt die Weltgeschichte das Wort Reparationszahlung.“

„Wie zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland zahlen musste.“

„Ja. Als im März 65 die Kriegsparteien und ihre Verbündeten so schwer geschädigt waren, dass an eine Fortsetzung der Kampfhandlungen nicht zu denken war, wurde zunächst pro forma der Waffenstillstand vereinbart, der faktisch schon eingetreten war. Und dann hoffte jede Seite auf die Kapitulation der anderen.“

„Es kam aber keine“, sekundiere ich.

„Nein. Nach einiger Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, dass über die Kriegsschuld verhandelt werden musste. Nur: wer hatte angefangen? Das war eine Frage der Interpretation. Die Russen, deren Sowjetreich schon vor dem Vertrag von Teneriffa am Zerfallen war, deuteten den amerikanischen Angriff auf Kuba als Erstschlag.“

„Aber so wird er doch heute allgemein interpretiert?“

„Ja. Das Dumme war nur, der erste Atomschlag ging tatsächlich von einem der vier sowjetischen U-Boote aus. Es hatte die Sperrzone vor Kuba durchbrochen, war geortet worden und sollte auf Weisung des amerikanischen Präsidenten nicht zerstört, allerdings von amerikanischen Schiffen, Flugzeugen und Hubschraubern zum Auftauchen gezwungen werden.“

Mein Blick fällt auf die Wanduhr. Ich habe mit meinen Schülern ein paar Dinge vereinbart, und für die wird es jetzt Zeit. Ich muss ihnen ein Stichwort geben. „Gibt es denn weitere Fragen aus dem Publikum?“

Johannes reckt sofort den Arm hoch. „Stimmt es also, dass drei Offiziere auf diesem russischen U-Boot den Krieg ausgelöst haben?“

Genau darüber haben wir vorige Woche im Unterricht gesprochen: Wie hat eigentlich alles begonnen?

Mit einem Missverständnis.

Der Professor antwortet: „Du meinst das U-Boot B-59, das am 20. Oktober auf Tauchfahrt die Sperrzone durchbrach. Die Amerikaner warfen als eine Art Warnung ein paar Wasserbomben ab. Die verantwortlichen Offiziere – der U-Bootkommandant, ein Politoffizier und als dritter der Kommandant der gesamten Kriegsmarine – mussten denken, sie würden angegriffen. Für diesen Fall hatten sie Order, von ihrem Nukleartorpedo Gebrauch zu machen, und sie taten es.“

„Warum haben sie nicht einen konkreten Einsatzbefehl abgewartet?“ Johannes nimmt damit die kontroverse Klassendiskussion auf.

„Du vergisst, wie primitiv damals die Technik war. Die paar Computer, die es schon gab, waren klobig, kaum miteinander vernetzt und ziemlich dumm. Kommunikation ging nur analog, über Funk. Wenn überhaupt. Der Kontakt mit Moskau war schon längere Zeit abgerissen. Getaucht konnte man ohnehin weder senden noch empfangen. Die im Boot gemessenen Erschütterungen haben den dreien als Beweis gereicht, dass der befürchtete amerikanische Angriff bereits erfolgt sei und sie sich im Krieg befänden. Das jedenfalls entnehmen wir der Aussage des Flottenkommandeurs Archipow, der dann in amerikanische Kriegsgefangenschaft geriet.“

Das ist der, der sich später erhängt hat, fällt mir ein. Ich habe gelesen, er war seit einem Unfall auf einem der wenigen atomgetriebenen U-Boote, die die Sowjets je in Dienst gestellt hatten, schon vor dem Krieg so verstrahlt, dass er wahrscheinlich ohnehin bald gestorben wäre. Aber ich habe Marie im Blick und behalte beides für mich.

Meine Schüler lassen nicht locker. Julia meldet sich: „Aber es ist richtig, dass sie den Angriff auch hätten sein lassen können?“

Ich bin stolz auf meine Klasse.

Der Professor denkt einen Augenblick nach, dann antwortet er: „Meines Wissens mussten sie sich einig sein, bevor sie den Torpedo auf Habana losschickten. Es wäre nicht geschehen, wenn einer dagegen gewesen wäre.“

Es ist jetzt totenstill in der Aula. In das Schweigen hinein sagt Julia sachlich: „Also hätte einer der drei ausgereicht, den Dritten Weltkrieg zu verhindern.“

„Jeder der drei“, erwidert der Professor mit gnadenloser Ruhe und schafft es, ziemlich genau in Julias Richtung zu blicken, „hätte gereicht. Aber so viel Glück hat nicht jede Welt.“

Diese Wendung des Gesprächs wird der Direktorin, die im schwarzen Schneiderkostüm mit gerunzelter Stirn in der ersten Reihe sitzt, nicht unbedingt gefallen, aber da müssen wir jetzt durch. Nikolas aus meiner Klasse schaltet sich jetzt ein, um die andere Frage zu stellen, über die wir gestritten haben: „Herr Professor, worin sehen Sie die eigentlichen Ursachen für den Dritten Weltkrieg?“

Der alte Mann räuspert sich, bevor er antwortet. „Ein Krieg ist ja kein isoliertes Phänomen, das auf einmal vom Himmel fällt. Er ist die logische Konsequenz gewalttätiger Verhältnisse.“

„Gewalttätig – schon vor dem Krieg?“ hakt Nikolas nach.

„Verhältnisse, unter denen drei Männer allein im Ozean in einem dieselgetriebenen Stahlsarg, der im 30 Grad warmen Wasser der Karibik, für das er nicht konstruiert ist, 50 Grad Raumtemperatur hat, bei rationiertem Trinkwasser zu entscheiden haben, ob sie einen Weltkrieg beginnen, nenne ich gewalttätig“, antwortet Juárez überraschend sanft. Dann fährt er druckreif fort: „Über die Kuba-Krise als unmittelbaren Anlass hinaus und den Kalten Krieg als Nährboden für Misstrauen und Angst betrachtet die Forschung heute die Rüstungsproduktion selbst als die eigentliche Kriegsursache: Je mehr Waffen und Trägersysteme hergestellt und bevorratet werden, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit ihres Einsatzes. Dies gilt weltweit und bis heute, d.h. auch für aktuelle Konflikte, die es ja auch nach der globalen Ächtung atomarer Waffen durch den Vertrag von Teneriffa noch gibt. Das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens, das die ehemaligen Weltmächte in der Zwischenkriegszeit durch Rüstung herzustellen hofften, ist aufgestautes Gewaltpotenzial. Und das ist zu jeder Zeit die falsche Antwort auf die Frage, wie sich Frieden sichern lässt.“

Während dieses Wortwechsels sind meine Augen immer wieder zu Marie gewandert. Ich spüre, dass das jetzt zu schwer für sie wird. Sie sitzt unnatürlich aufrecht und völlig unbeweglich da. Ich kenne diesen Zustand an ihr. Das Beste wird sein, die Fragerunde jetzt zu beenden. Also sage ich, was Moderatoren eben sagen müssen: „Gibt es sonst noch Fragen?“ Erleichtert schaue ich ins Publikum, als niemand sich mehr regt. Schon setze ich zum Dank an unseren Gast an, da geht doch noch eine Hand in die Höhe. Eine Schülerin unserer Eingangsklasse traut sich jetzt auch eine Frage zu stellen. Was bleibt mir übrig, ich nicke ihr zu. Sie möchte wissen: „Herr Professor, waren Sie schon immer blind?“

Mist. Mit meiner Elften habe ich das geklärt, aber das kann sie nicht wissen. Mein wachsamer Blick bleibt bei Marie. Ich höre aber auch die Antwort des Professors, die mir nach dem Ernst des bisherigen Gesprächs fast leutselig vorkommt. „Weißt du“, sagt er nämlich, „meine Mutter war keine gebildete Frau. Sie hat mir trotzdem eigentlich alles beigebracht, was ein Kind zu wissen braucht. Aber wie hätte sie ahnen sollen, dass sie mich vor dem Tag warnen muss, an dem die Amerikaner eine Atombombe auf Habana werfen? Junge, wenn das passiert, da hinten am Horizont, schau auf keinen Fall hin.“ Er macht eine kleine Pause, und ich sehe an Maries zitternder Unterlippe, wie trügerisch die Leutseligkeit dieses Zeitzeugen ist: Der Damm, den sie mühsam zwischen sich und dem Leid errichtet hat, wird das hier nicht aushalten. Das weiß ich schon, bevor der Professor diese Antwort in seinem tadellos korrekten Deutsch zu Ende bringt: „Ich war acht Jahre alt, und natürlich habe ich hingeschaut.“

Maries Gesicht entgleist in diesem Moment. Hilflos sehe ich zu, wie sie zu weinen beginnt, um nach allem, was ich weiß, damit nicht wieder aufzuhören. Ich sage meinen Dank an den Gast auf und wünsche allen einen guten Heimweg, ohne wirklich zu wissen, was ich rede. Schräg vor mir, in der zweiten Reihe, sehe ich mit einer Art Tunnelblick Zusanna neben dem Rollstuhl von Bartosz sitzen. Ich gehe hinüber, beuge mich rücksichtslos über die erste Reihe – die da sitzen, sehe ich gar nicht – und flehe meine polnische Kollegin an: „Kannst du bitte Marie in den Arm nehmen?“ Mein Ton muss dringlich klingen, denn sie schreckt hoch und dreht sich suchend um. Dann nickt sie und steht auf. „Pewnie“, murmelt sie und beginnt, sich durch Anrempeln von Knien einen Weg zu bahnen. Dass das jetzt die musikalische Umrahmung stört, ist mir egal. Die Streicher haben noch einmal zu spielen begonnen. Laut Programm den letzten Satz (Presto), das ganze Ding wäre ja zu lang. Aber auch so ist es gnadenlos. Ich wollte, ich könnte mir die Ohren zuhalten oder wenigstens, wie ich es andere Menschen tun sehe, die Augen mit der Hand bedecken.

[1] Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, kurz Sowjetunion, umfasste vor dem 3. Weltkrieg den Ostrand Europas sowie Teile Asiens und war ein 1922 durch eine Revolution entstandenes riesiges, zentralistisch regiertes Land mit einer Staatsdoktrin, die die Gleichheit aller seiner Bürger zwar behauptete, aber nie umsetzte. Es zerfiel nach dem Frieden von Teneriffa in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts von selbst (Anm. d. Hrsg.).

[2] Gemeint sind hier und weiter unten nicht die United States of Arabia, die muslimische Weltmacht des 22. Jahrhunderts, gegründet 2112. Die vorliegende Geschichte spielt Mitte des 21. Jahrhunderts, und vom 18. bis fast gegen Ende des 20. Jahrhunderts war Nordamerika zwischen Kanada im Norden und dem mächtigen Staatenbund United States of America aufgeteilt. Zu diesen „Vereinigten Staaten“, die als Großmacht den Atomkrieg provozierten und an ihm zerbrachen, gehörte neben dem späteren Freistaat Kalifornien-Oregon im Westen, der Ostamerikanischen Republik und dem Südstaatenbund einige kleinere und unbedeutende Länder sowie der Nordosten Mexikos (für Historiker: Texas) und der spätere Südrand Kanadas (also Washington, Montana, Norddakota, Michigan und Maine). (Anm. d. Hrsg.)

[*] Diese Erzählung ist Teil eines Schreibprojekts mit dem Arbeitstitel Alternative Weltgeschichte, fiktional herausgegeben im Jahr 3220 von einem der wenigen Menschen, die der Verfolgung durch die auf Terra zu dieser Zeit herrschende Maschinenkultur entgangen sind. (Real veröffentlicht in: Boelderl, A./ Esterl, U./ Mitterer, N. Hrsg.: Poetik des Widerstands. Eine Festschrift für Werner Wintersteiner. Innsbruck: StudienVerlag 2020, 204-215.)

[**] The Left Hand of Darkness. New York: Ace Books 1969, Introduction - added 21976 , p. 5.

 

 

Die da draußen

„Das Problem“, sagt der alte Mann mit dem Stoppelbart, „ist, dass wir aus eige­ner Kraft überall hin können, nur nicht zu denen hinaus. Sie müssten schon herkommen.“

Es wird still am Tisch. Die sechs Menschen sehen nicht ein­an­der an, sondern die ovale Tischplatte, die so dunkel ist, dass sie wie ein schwarzer Teich im Raum zu ruhen scheint. Man könnte denken, sie sei gar nicht da. Durch hohe Fenster schaut man, weil es drunten in der Ebene keinen Schnee gibt, in eine blaugrüne Weite, die wenig erkennen lässt. Dorthin schweift jetzt der Blick des elf­jährigen Jungen, der dem alten Mann gegen­über sitzt. Hinaus über die weißen Dä­cher und grauen Mauern der steinernen Stadt, deren Granit­ in der fast waagrecht ein­fallenden Abend­sonne farbig wirkt, und weiter über die bu­ckl­igen Berge da­runter und das leere flache Land, in das sie übergehen. Hängen bleibt der Blick des Jun­­gen erst an der feinen Li­nie, die Him­mel und Erde trennt und in der sich vielleicht das Meer verbirgt. Dort wäre der Junge, der Kleinste in der Runde, aufge­wach­sen, hinter der Werft, die lange schon dicht­ge­macht hat. Wenn es seine Geschichte schon gäbe.

„Sairon“, sagt der Junge, weil er nicht wahrhaben will, dass es ihn ge­nauso we­nig gibt wie die andern am Tisch, „Ihr sagt, wir haben noch keine Ge­schich­ten. Aber wieso ha­ben wir dann Namen?“

„Keine Geschichte“, korrigiert der alte Mann behutsam. „Ich spreche von eurer gemeinsamen Geschichte.“

Die anderen schauen nicht den Alten an, sondern den Jungen. Er hat Recht. Natürlich hätten alle, die sich hier zusammengefunden haben, Namen, wenn es ihre Geschichte gäbe. „Dass wenigstens die wichtigsten Menschen in ei­ner Ge­schichte Namen brauchen, weiß doch jedes Kind,“ sagt ein älterer Junge, fast schon ein junger Mann.

„Und manche auch Titel“, ergänzt das sechzehnjährige Mädchen, das klein, schmal und auf­recht neben ihm sitzt. Ihr Kraus­haar ist schwarz und ihre Haut so dun­kel, dass das Dämmerlicht des Konferenz­raums sie verschlucken würde, wenn die Augen nicht wären.

„Die da draußen wissen doch gar nicht, was Sairon heißt“, entgegnet der ältere Jun­ge.

„Haben die kein Elbisch-Wörterbuch? Nicht mal Quenya?“ fragt der Kleinste. Der nach den Namen gefragt hat.

„Das weiß ich nicht genau, Jan“, antwortet der alte Mann mit seiner klaren, ein wenig mü­den Stimme. „Manchmal denke ich, die wissen alles, manchmal zweif­le ich da­ran, dass sie überhaupt eine Ahnung haben. Aber Ira hat schon Recht. Wenn dies hier eine Geschichte würde, hätte mein Titel einen Sinn.“

„Aber Jan hat auch Recht“, sagt der ältere Junge heftig. „Wir wissen doch, wer wir sind!“ Er ist so aufgebracht, dass er mit dem Finger auf jeden zeigen muss, den er benennt. „Sairon Finn. Jan. Merle. Ira. Drago. Und“ – indem er auf sich selber zeigt – „Mark. Außerdem, dieser Ort hat ja auch einen Namen“, fügt er trotzig hinzu.

„Frag dich mal, warum grade Jan und Ira so ein Interesse daran haben, dass es unsere Geschichten gibt“, wirft mit lauter Stimme ein blas­ser blonder Junge ein, der größer ist als Jan, aber nicht älter. Obwohl er das si­cher nicht wollte, klang es gehässig. Ein wenig lei­ser und weniger aufsässig im Ton, kor­rigiert er sich un­ter dem strengen Blick des alten Finn: „Ich meine, un­sere Ge­schichte.“

„Täusch dich nicht über die sogenannten Helden einer Geschichte, Drago“, erwidert Finn. „Sie kriegen nichts geschenkt.“ Und in einem an­deren, ge­schäfts­mäßigeren Ton fügt er hinzu: „Ich vergaß zu sagen, Mara Zieg­­­ler ist ja heute nicht mehr dabei. Wir können ihr nur Glück wünschen für den Weg, den sie ein­ge­schlagen hat.“

Die anderen nicken wortlos. Da Sairon Finn es nun sagt, wissen alle, dass Mara diese Welt kürz­lich ver­lassen hat. Und nicht alle, aber doch immerhin die, die hier sitzen, wissen außer­dem, dass auch sie in anderen Welten leben könnten, wenn sie das wollten. Des­wegen sitzen sie ja hier, denkt Finn, meine besten Schü­ler. Schade nur um Mara Ziegler.

„Wo ist sie denn eigentlich genau hin?“ fragt der blonde Junge for­dernd, so als schulde man ihm genauere Auskunft.

„Sie ist jetzt die künftige Müllerin von Bree,“ antwortet das dunkle Mädchen mit be­legter Stimme. „Hat im Tänzelnden Pony den Sohn des Müllers aus dem Tal­­grund unterhalb von Bree kennen gelernt.“

„Mittelerde, dachte ich mir’s doch“, erwidert der Blonde in einem Ton, der nun beinahe überheblich klingt.

Das weiß ich schon, mein Lieber, denkt Finn, dass du da nicht hin willst.

Ein Mädchen, das so alt ist wie Jan und Drago, aber erwachsener zwischen ih­nen sitzt, sieht niemanden an, als es abfällig sagt: „Die bloß Mittelerde ken­nen, gehen halt dorthin. Es gibt aber doch so viele andere Welten!“

Finns Blick, der auf der elfjährigen Merle ruht, ist traurig. Begabt, hübsch und gut erzogen, aber keine Ahnung, warum sie hier sitzt.

Da geht die Tür auf, und eine gebeugte Gestalt schiebt sich herein. „Sai­ron, Ihr habt nach diesen Büchern verlangt.“ Die bucklige Bibliothekarin, die über einem beinahe waagrechten Oberkörper den Kopf aufrecht hält wie eine seltene Vo­gelart, lässt zwei große Bücher mit schweinsledernen Ein­bänden auf den Tisch fallen. Eine Staubwolke erhebt sich darüber, die Finn mit der Hand bei­­seite wedelt. Jan niest.

„Das ist auch ein Teil des Problems“, sagt Finn, indem er die Bibliothekarin irritiert anschaut – schön, dass es sie gibt, aber wer hat sich die denn so vor­gestellt? – und ihr dann doch dankend zunickt. Er wartet, bis sie den Raum ver­lassen hat, dann fährt er fort: „Die da draußen kennen so etwas kaum.“

„Keine Bücher?“ fragt Jan erschrocken.

„Doch, Bücher haben sie schon, aber die sind meistens schon voll.“

„Volle Bücher, was sollen sie denn damit?“ ruft Jan. Merle und Drago lachen, Mark schmunzelt. Ira bleibt ernst.

Finn reibt sich die Bartstoppeln am Kinn, dann sagt er in entschuldigendem Ton: „Die meisten lesen sie nur.“

„Aber Bücher sind doch zum Schreiben da“, murmelt Jan verwirrt. Wenn er hier, in der Schule der leeren Bücher, etwas schon gelernt hat, dann das.

„Irgendwer muss sie aber geschrieben haben“, sagt Mark trocken.

„Gewiss“, bestätigt Finn. „Einige wenige schreiben, was die andern lesen. Die Bücher werden maschinell hergestellt. Ungefähr so wie bei uns die Wochen­zeitung aus der Hauptstadt.“

Jan tauscht einen Blick mit Ira. Befremden liegt darin und, tatsächlich, Angst. Finn sieht es und weiß in die­sem Augenblick, wer an der Schule zur Zeit an den interessantesten Bü­chern schreibt.

„Wenn sie nur lesen“, sagt der große Mark langsam, weil der Gedanke sich in seinem Kopf erst formen muss, „dann können sie die Geschichten wechseln wie ich mei­­ne Hemden?"

„Oder gar wie Merle ihre Blusen“, steuert Drago süffisant bei. Merle schießt das Blut ins Gesicht.

„Drago!“ sagt Finn scharf, und dann in seinem gewöhnlichen ruhigen Ton: „In der Tat liegt für unser Empfinden darin eine gewisse Beliebigkeit.“

„Aber ist das denn so schlimm?“ fragt Ira. „Wir gehen doch auch manchmal ein­­­fach nur eine Stunde spazieren, sagen wir mal am Hafen von Havnor, in Ly­ras Oxford oder im Mattiswald, und kommen dann hierher zurück.“

„Aber das ist doch nicht nur zur Unterhaltung!“ sagt Jan hitzig. „Wir lernen je­des Mal was. Dafür sind wir doch hier.“ Er schaut eine Sekunde mit ge­run­zel­ter Stirn die Tischplatte an, dann fügt er leiser hinzu: „Außerdem ist es ja nir­gends ganz ungefährlich.“

Finn nickt nachdrücklich. Jans erste Weltreise ist ihm auf einmal in Erin­nerung. Im falschen Tal gelandet und von Tengils Häschern verhaftet worden. War gar nicht so einfach, ihn dort wieder herauszubekommen: Es wun­dert ihn selber, dass er das denken kann. Seit wann gibt es denn ein Vorher?

„Dann haben die da draußen wohl auch keine Erzählerämter und keinen Groß­erzähler?“ fragt Drago, und Finn hebt erstaunt die Brauen. Die Frage ist scharf­sinnig; vielleicht hat er Dra­go, das Groß­­maul, doch unterschätzt. „Nein, haben sie mei­nes Wissens nicht.“

„Der Großerzähler hat sowieso zu viel Macht und gehört abgeschafft“, erklärt der so ermunterte Drago. Mein Vater sagt …“

Finn macht mit der waagrechten Handfläche eine kurze schnelle Bewegung, und Drago verstummt. Wissen wir, denkt der alte Mann, dass dein Herr Vater sich gerade als Reformer in Stellung bringt. Gnade uns, wenn in der Hauptstadt drunten der amtierende Groß­erzähler stirbt; man sagt, er sei nicht mehr recht gesund. Seine Schule hat er jedenfalls lange nicht besucht, zu beschwerlich der Weg auf den Berg. Wenn hier alle Klassen auf einmal in Zweierreihen nach Mit­tel­erde ausge­wan­dert wären, er hätte es ja nicht einmal bemerkt.

„Maschinell hergestellte Bücher“, sagt er, „haben sicher ihre eigenen Pro­ble­me. Schnell kann es mehr davon geben, als die da draußen lesen können, auch wenn sie viele sind. Aber ihr müsst zugeben, dass selbst bei uns nur wenige schrei­ben.“

„Die andern lesen allerdings auch nicht“, murmelt Merle verächtlich.

Finn nickt. Wo sie Recht hat, hat sie Recht. Um das Thema zu wechseln, klappt er das obere der beiden Bücher auf, die vor ihm auf dem Tisch liegen, und hält es hoch, so dass die brüchigen Goldlettern auf dem Einband lesbar werden:

Großerzählerin Gertrude
Die Konfuse
2609-2689 n.H.
5.
Buch

„Die da draußen hätten zum Beispiel keine Ahnung, was das bedeuten soll“, sagt Finn.

Jan schüttelt den Kopf. „Wo ist das Problem? Großerzählerin Gertrude, ge­nannt die Konfuse, lebte von 2609 und 2689 nach Homer, und das hier ist ihr fünftes Buch.“

„Ja schon“, sagt Ira, „aber womöglich haben sie eine andere Zeitrechnung?“

„Treffer“, sagt Finn.

„Nach welchem Großerzähler rechnen sie denn?“ fragt Merle spitz. „Und ken­nen sie tatsächlich Homer nicht?“

„Das kann ich euch leider nicht sagen“, entgegnet Finn.

Die fünf schauen die Tischplatte an und schweigen. Das ist alles sehr ver­wir­rend. Finn legt das riesige Buch zurück, lässt es aus­ein­an­derfallen und schaut hinein. Nach kur­zem Su­chen zitiert er: „Die Geschichte beginnt eigentlich vor der Ge­schich­te.“

„Ist was dran“, murmelt Ira.

„Es kommt noch ärger“, erwidert Finn fröhlich und blättert dreimal um. Dann liest er vor: „Jede Geschichte berichtet von einem Verlust. Der Ver­lust ist der Gewinn.“

Mark ächzt. „Die haben keine Chance, oder?“

Finn antwortet nicht; es ist nicht klar, ob er das für schwerer verständlich hält, oder für leichter. Noch einmal umblätternd, beugt er sich über das Buch und kneift die Augen zusammen. „Oder das“, sagt er. „Herbstknospen, Win­­­­ter­blüten/ Frühjahrslaub und Sommerfrost/ Auf den Händen gehe ich/ durch das Jahr.“

„Schräg“, murmelt Mark.

„Man hätte sie wegsperren sollen“, sagt Drago feindselig. Merle nickt dazu.

„Nein, das ist schön“, sagt Ira leise.

Der kleine Jan sagt nichts. Das geht ihm alles zu schnell. Noch nicht lang ge­nug ist es her, dass er sie kennen gelernt hat, die Bücher, in die man schreiben kann.

„Es geht aber nicht nur um Gertrude, obwohl ich gestehen muss, dass sie meine Lieblingserzählerin ist“, sagt Finn in das sich ausbreitende Schweigen hinein, klappt das Buch zu und schiebt es von dem zweiten herunter, so dass er dieses hochheben kann.

Großerzähler Maro
Der Komische
2680-2771 n.H.
7.
Buch

Nach kurzer Lesezeit legt er es ab und lässt es auseinanderfallen, so dass er eine Stelle zum Vorlesen finden kann. Er entscheidet sich für diese: „Nach der Ge­schichte ist vor der Geschichte.“ Auch hier ein paar Seiten umblätternd, findet er: „Ge­schich­ten entwi­ckeln sich von selbst. Nachrichten dagegen muss jemand hervor­brin­gen. Dass die meis­­ten Menschen glauben, es sei umgekehrt, ist nicht gut und manch­mal gefährlich.“

„Ob die da draußen das alles kapieren oder nicht“, wirft Drago ungeduldig ein, „es geht doch nur darum, dass sie jetzt mal kommen, oder?

„Aber“, sagt Jan vielleicht nur, um Drago zu widersprechen, „wenn das hier so schwierig für sie ist, warum sollten sie denn überhaupt kom­men wollen? Was hätten sie davon?“

„Man kann doch auch Sachen interessant finden, die man nicht versteht“, sagt Ira, was Finn bemerkenswert findet, denn sie ist mit Drago selten einer Mei­nung.

„Vielleicht könnten wir so eine Art Rätsel für sie sein?“ sagt Mark.

„Wie meinst’n das, ein Rätsel?“ will Merle in herausforderndem Ton wissen.

„Ich hab ja nur gedacht“, erwidert Mark, und seine Stimme verrät Unsicherheit, „man­­­­che Leute lösen doch gern Rätsel und freuen sich, wenn sie es ge­schafft haben.“

„Brauchbarer Vorschlag“, sagt Finn. Es ärgert ihn, wie sich der große Mark von der kleinen Merle einschüchtern lässt. Das Arbeiterkind von der Schreiber­tochter. Im­mer das Glei­che.

Jan schaut von einem zum andern, und da niemand mehr etwas sagt, wendet er sich an den alten Lehrer: „Sairon, was meint denn jetzt Ihr?“

Finn lässt sich mit der Antwort viel Zeit. Hinter den Fens­tern saugt der ein­setzende Abend die Farben aus einer Landschaft, deren Konturen gleichzeitig deutlicher werden. Noch nicht wahrnehmbar von der steinernen Stadt aus, hat unten in den Tälern der Buckelberge und in der Ebene zum Meer hin die Ge­schichte begonnen, sich zögernd zu be­we­gen, wenn auch mit der Trägheit eines alten Mühlrads, das lange still­stand. Da sitzen alte Bäu­erinnen auf Bänken vor Hauswänden, in denen der Schwamm hockt, und sor­tieren verkrüppelte Kar­toffeln; die Höfe sind unheimlich still, weil die Jun­gen sich davon gemacht ha­ben. Noch weiter drunten und meerwärts, entlang der stau­­bi­gen Bucht­stra­ße, schenken in ihren windigen Buden Wirte mit ledernen Ge­sichtern Schnaps an Ta­gelöhner aus, die erst gehen werden, wenn der Lohn ver­soffen ist. Und im Palast des Präsiden­ten, dessen bröselndes Blattgold viel­leicht an vergan­gene Zeiten erinnert, sicher aber an das Vergehen der Zeit, geht gerade eine Rats­ver­sammlung zu Ende, in der zum hun­dert­sten Mal die Ära der El­fen­herrschaft gepriesen und die schäbige Gegen­wart be­klagt wor­den ist.

Noch dreht sich das Mühlrad langsam, aber es wird schneller wer­den.

„Es ist schwer für uns, die da draußen zu begreifen“, sagt Finn end­lich behut­sam. „Vielleicht schätzen sie dann mehr, was sie selber haben, wenn sie bei uns gewesen sind?“

In der sich verdichtenden Dämmerung sitzen die fünf etwas ratlos um den Tisch. Sie verehren Sairon Finn, aber so recht überzeugend finden sie diese Er­klä­rung erst einmal nicht. Dann aber sagt Mark beinahe hoffnungsvoll: „Ken­nen die vielleicht sowas wie unsere Tage­löhner vom Archipel gar nicht?“

Ein Schaudern ist zu spüren, als er das sagt. Alle haben Bilder im Kopf von dun­kelhäutigen Männern, die in der Hoffnung auf eine Zukunft vom fernen Ar­chipel ge­kommen sind, im Unterdeck unvorstellbar enger Segelschiffe, aber dann oft kei­ne Arbeit finden und deshalb die Tage in den Fuselkneipen ent­lang der Gro­ßen Bucht verdämmern.

„Und keine Namenlosen Viertel?“ ergänzt Ira.

Finn hebt die Schultern. „Womöglich doch. Und angesichts unserer Geschichte würden sie eher anfangen, das eine oder andere zu vermissen, was sie nicht haben?“

Das ruft wieder Jan auf den Plan. Denn wenn das Mühlrad schneller wird, ist er der einzige eines Ja­hrgangs barfüßiger Schiffbauer- und Netzknüp­fer­kin­der, der auf diese Schule durfte. „Sie haben wohl keine Schulen, in denen sie lernen in einer Ge­schichte zu leben?“

„So weit wir wissen, nein.“

Jan nickt befriedigt. Immerhin eine Antwort. „Können sie dann überhaupt in Geschichten leben?“

„Das glaube ich nun wiederum schon“, antwortet Finn bedächtig. „Wahr­schein­­­­­lich gibt es überhaupt keine Menschen, die das nicht irgendwie können.“

„Aber sie müssen dabei ihren Körper zurücklassen?“ fragt Drago, sich ge­spannt vor­beugend.

„Ja, das müssen sie wohl.“

„Und sie können nicht zaubern?“ fällt Merle ein, als ginge es darum zu bewei­sen, wie armselig wenig die können, die da draußen.

„Kaum“, sagt Finn knapp.

„Wir aber auch nicht mehr“, sagt Drago, „obwohl wir angeb­lich von den Elfen abstammen.“

„Du vielleicht, Drago. Ich sicher nicht“, sagt Ira ohne jeden Versuch, freund­lich zu klingen.

Stille. Alle wissen, dass Iras Vater, den sie nie gesehen hat, vom südlichen Ar­chipel stammte und ihre Mutter eine dieser Frauen im Namenlosen Viertel der Haupt­stadt war.

„Jedenfalls habe ich einen Namen“, sagt Drago patzig. „Es kann doch nicht jeder Dahergelauf…“

„Dass bei uns nicht jedem ein Nachname zusteht,“ unterbricht Finn, kälter im Ton und Drago nicht aus den Augen lassend, „können sie sicher nicht nach­vollziehen.“

„Aber dann begreifen sie ja auch nicht, warum Ira hier eigentlich gar nicht sein darf!“ platzt Jan heraus. Dass ihn das so wütend macht, hat zwei Grün­­de, von denen er selber nur einen kennt: Er bewundert Ira; sie hat, wenn die Ge­schichte endlich beginnt, ebenfalls eine Kindheit ohne Schuhe hinter sich, und sie hat es trotz­dem zur Schulmeisterin gebracht. Den zweiten Grund kennt nur Finn: Es ge­fährdet die ganze Geschichte, wenn sie zu schwer verständlich ist.

„Das begreifen sie vermutlich schon, Jan,“ sagt er deshalb sanft. „Man­che Din­ge sind in allen Welten leider ziemlich gleich.“

Wieder schweigen sie. Der große Tisch zwischen ihnen hat jetzt im letzten Licht des Tages eine Maserung. Eiche. Aus einer Zimmerecke tritt merkwürdig klar ein Schrank hervor, vielleicht weil seine Glastüren das Abendlicht spiegeln.

Drunten in der Ebene, die jetzt tatsächlich schon ein paar Wege hat, prescht ein einzelner Reiter durch eine Allee, deren Bäume noch nicht mehr sind als Sche­men, und springt, kaum dass er sein Pferd gezügelt hat, vor einem statt­lichen Ge­bäude ab; es könn­te einen neuen Anstrich vertragen. Der Reiter ist noch auf der Freitreppe, da öffnet sich ein Türflügel, und ein blasser, dünn­lippiger Mann in Schwarz erscheint. „Herr Vizepräsident, Ihr wolltet sofort Be­scheid haben“, keucht der Bote und übergibt ein zusam­men­gefaltetes Blatt. Der Mann öffnet es und nickt befriedigt. Dann dreht er sich halb um und ruft scharf ins Haus hinein: „Ausrücken!“ Sofort öffnet sich auch der andere Tür­flügel, und zwei Dutzend Uniformierte drängen heraus. Sie gehen schnell, aber ohne Hast zu vier Kut­schen. Die stehen lang, schwarz, mit je vier Pferden im Geschirr, neben dem Haus bereit­ und waren, das könnte der Be­trachter schwören, eben noch gar nicht da. Die letzten Männer ha­ben die Schleiflacktüren mit den verhangenen Fens­tern noch nicht hinter sich zugezogen, da fahren die Kut­scher schon an. „Den Alten ver­haften! Die Schüler nach Bu­ckelberg brin­gen!“ schreit der Blasse hin­terher, aber das wäre gar nicht nö­tig. Die In­struk­tionen sind lange schon klar. „Das neue Jahr wird gut be­gin­nen“, mur­melt er, dreht sich um und wirft die Tür­flügel hin­ter sich zu. Kleine Putz­brocken lösen sich von der Wand und fallen auf die oberste Stufe.

„Ich denke“, sagt Drago so laut, als könne er die Stille nicht mehr ertragen, „die wären einfach gespannt, wie es weitergeht, hier bei uns!“

„Aber es hat doch eigentlich noch gar nicht angefangen“, flüstert Jan. „Wie kann es dann schon weitergehen?“

Finn antwortet Jan, schaut aber Drago dabei an. „Doch. Wenn es eine Ge­schich­te ist, tut es genau das.“

„Das versteh ich nicht“, sagt Mark heftig. „Und man muss doch verstehen,  was man erzählt?“

Finn schüttelt den Kopf. „Man muss erzählen, was man verstehen möchte.“

„Und die da draußen,“ ruft Mark ver­zweifelt, „kennen uns die jetzt? Wir bräu­chten doch einfach jemanden, der uns kennt!“

„Das brauchen alle Menschen,“ sagt Finn gleichmütig. „Meine Vermutung ist, dass es uns deswegen gibt.“ Noch einmal zieht er Gertrudes Buch zu sich heran, blättert, liest, schaut auf. „‛Manche Menschen fürchten sich davor, ins Un­­ge­wis­se aufzubrechen. Aber man stelle sich vor, man müsste aufbrechen ins Ge­wisse!’“

Es ist wie ein Schluss­­­wort, niemand sagt mehr etwas. Finn blickt auf und schaut in die Runde. „Ich wünsche euch einen schönen Abend und ein gutes neues Jahr. Nächste Wo­che sehen wir uns hoffentlich wieder.“

Stühle werden gerückt. Sie gehen alle fünf hinaus. Finn bleibt noch sitzen. Es ist nun fast dunkel in diesem Raum, den es ganz zuerst gab und der nur wenige Male im Jahr benutzt würde, lüde er sie nicht immer wie­der ein, drei aus der ersten und drei – jetzt noch zwei – aus der letzten Klasse, um mit ihnen über die ersten und letzten Dinge zu reden.

Im neuen Jahr, denkt er, wird es Zeit für sie zu begreifen, dass sie nie etwas sein werden, wenn nicht bald von da draußen jemand kommt. Und dass die da draußen genau wie Mara vom Zieglerfeld eine gewisse Vor­liebe für die ein­fa­che­ren Geschichten haben.

Nicht zum ersten Mal, das weiß er plötzlich, fragt er sich, ob er die Richtigen aus­gesucht hat. Oder ob sie es am Ende alle machen werden wie Mara, die eine schöne Ge­schichte wollte, eine, die es schon gibt, und zwar jetzt. Sie ist jung, denkt er trüb, wer wollte es ihr verübeln. Überhaupt, wer sind wir zu ur­tei­len über die, die in ir­gend­­eine andere Welt verschwinden? Eine mit besser in Gut und Böse einteil­baren Men­schen, er­grei­­fenderen Geschichten oder gran­dio­seren Gefah­ren?

Wenn alle hier die Gabe des Weltenwechsels hätten, denkt Finn düster, ich stünde bald vor leeren Schul­zimmern. Von denen, die sie haben, und da ist er sich auf einmal sicher, ist nun noch Mark Steinbrecher da, der einen gu­ten Kopf hat und die Geradlinigkeit der ein­fachen Leute von der Nord­küste. Dra­go Walter, der seinen mächtigen Vater, den zweiten Mann hinter dem seni­len Prä­sidenten, zu­gleich hasst und bewundert. Die verwöhnte Merle Schrei­ber, deren Vater im Regie­rungsviertel arbeitet und die die elenden Siedlungen in der Gro­ßen Bucht ver­mutlich nie betreten hat. Jan Schiffbauer, der von dort kommt, so zäh ist wie schmäch­tig und so wach, wie er verträumt wirkt. Und na­türlich Ira, die nicht ein­mal Netzknüpfer heißen darf, und die einen gol­de­nen Zorn in sich trägt. Sie sind nicht viele, aber sie wür­den ihre Geschichte schon finden. Sie kä­men zu­recht, auch wenn fünfzig Gene­ra­tionen nach dem Aus­­ster­ben der Elfen hier nie­mand mehr zau­bern kann.

Aber die da draußen, denkt Finn und stemmt sich mühsam aus seinem Stuhl hoch, können das ja auch nicht. Nicht, dass ich wüsste. Und doch können sie uns das Leben schenken.

Vom Treppenhaus her hört er noch Stimmen.

„Also gibt es uns doch, Iri?“ fragt Jan.

„Ja jetzt“, sagt Ira.

 

Der Neujahrsabend ist schon immer ein besonderer Abend gewesen: Ja, auf einmal gibt es ein Vorher. Wie könnte man sonst sagen, Finn habe wie jedes Jahr nach dem Abend­essen noch mit den anderen Sairolli und dem Direktor zusammen­ge­sessen, und wie jedes Mal sei das Jahr besprochen worden? So wie größere Bäume, denkt Finn, längere Wurzeln brauchen, so wachsen auch Ge­schichten immer in zwei Richtungen, nach oben und unten. Eine Tradition des Neujahrs­abends ist es, auf alle anzustoßen, die im Lauf des Jahres ihre Ge­schichte ir­gendwo an­ders gefunden haben und gegangen sind. Diesmal sind es aus­schließ­lich Schüler und Schüler­innen gewesen; sie wurden in der Rei­hen­folge der Klas­senstufen ge­nannt. Es hat aber auch schon andere Jahre ge­ge­ben. Ein­mal ist ein junger, sehr be­lieb­ter Lehrer ver­schwun­­­­­den, aus­­ge­wandert nach Erdsee. Wahr­schein­lich, denkt Finn bitter, ist er inzwischen der Erzmagier von Roke. Und ein ande­res Mal war es des Gärt­ners junge Frau, von der niemand gewusst hat, dass sie die Gabe besaß. Fort mit un­be­kanntem Ziel. In solchen Jahren schmeckt der Wein, mit dem man darauf ansto­ßen soll, ein wenig herb.

Nach dem letzten Gläserklingen, es galt Mara Ziegler aus der Abschlussklasse, ist er früher als alle an­deren aufgestanden und hat sich in sein Zimmer zu­rückgezogen. Er will al­lein sein. Immer öfter hat er in letzter Zeit das Gefühl, von Gedanken be­drängt zu werden, die zu ordnen, zu klären und festzuhalten sind.

Gerade hat er zwei Kerzen angezündet, damit er am Schreibtisch genügend Licht hat, und sein Buch aufgeschlagen. Der letzte Eintrag, zwei Tage alt, lautet: Je älter ich werde, desto mehr bekümmert mich etwas, worüber ich früher gar nicht nachgedacht habe: Wieso können wir unsere eigene Welt so wenig ver­ste­hen? So überschaubar sie ist (wenn wir von vielleicht noch unentdeckten Inseln absehen), so wenig Sinn ergibt sie in mancher Hinsicht. Wieso zum Bei­spiel er­zählen wir hier meisterhaft Geschichten, in denen Menschen Großes errei­chen und ganze Welten gerettet werden, und haben selber keinen Plan, keine Idee und kein Ziel?

Finn greift zum Federhalter und taucht die Feder ins Tintenfass.

Ist der Wille des Schöpfers unergründlich? Wieso gibt es  – er zögert und ent­schließt sich dann zu einer ungeordneten Aufzählung, das ist besser als nichts – etwa die gelangweilt herumstehende Garde vor dem Präsidentenpalast (wer sollte den denn angreifen?), die Folianten mit den Zaubersprüchen der Elfen im Keller dieses Hauses (wer sollte dafür Verwendung haben?), oder das Namenlose Vier­tel (warum muss man Menschen ächten, weil sie arm sind oder unehelich ge­boren?).

Finn taucht die Feder wieder ein, hält aber dann inne, weil draußen vor dem Fenster der Wind in die alten Föhren fährt und den Schnee in Wolken von den Ästen fegt. Ein großer Tintenfleck ist die Folge. Ärgerlich drückt er ein altes Löschblatt darauf und fährt dann fort: Und das Wichtigste: Wieso gibt es unsere Schule noch immer, obwohl wir niemanden mehr das Zaubern lehren können? Schreiben, das ist doch nur ein Ersatz dafür. Ich sehe eigentlich nur zwei Er­klärungsmöglichkeiten: Entweder der Schöpfer selber hat keinen Plan, keine Idee und kein Ziel, oder er hat ir­gendein Problem, das wir in unse­rer Be­schränkt­heit nicht erkennen, und kann es anders nicht lösen.

Welches Problem hat der Sch

Finn legt erschöpft den Federhalter weg. Er fühlt sich plötzlich wie ein Läufer, der Seitenstechen hat und aufgeben muss. Selten hat es ihn so angestrengt, ein paar Sätze niederzuschreiben. Draußen pfeift der Wind um die alten Mauern. Als er einen Augenblick aussetzt, hört Finn gedämpft die Kollegen lachen, die immer noch beim Wein sitzen. Es ist der schwere und teuere Ore-Wein aus dem süd­li­chen Ar­chipel. Von Oiolaire, der Immersommerinsel. Die Arbeiter dort, sagt man, sehen allerdings wenig von dem Erlös.

Könnte es nicht auch sein, dass die da draußen uns besser als wir uns selber verstünden?

Ja, auch das könnte sein.

Es gibt fast nichts, was nicht sein könnte. Das, was ist, ist immer eine Ein­schränkung.

Der Kopf tut ihm vom Denken weh.

Der Wille des Schöpfers ist wohl nicht größer als dieser Fleck, und ge­nau­so schwer zu deuten.

Mit einer entschlossenen Bewegung verschraubt der alte Lehrer das Tinten­fäss­chen und schiebt es von sich weg. Dann drückt er das Buch mit der zur Faust geballten linken Hand auf den Tisch und reißt mit der rechten, die ein wenig zit­tert, an der eben beschriebenen Seite. Die Bindung gibt nach, die Seite lässt sich heraustrennen.

Wegen des Tintenflecks, denkt Finn. Nur wegen des Flecks.

Er schließt das Buch und sieht auf. Ein anhaltendes Knirschen nähert sich, wie von schwe­ren Eisenreifen über Schotter. Und Getrappel von Pfer­den.

Von merkwürdig vielen.

Finn steht auf, beugt sich über die beiden Kerzen und bläst sie aus. Dann setzt er sich im Dunklen auf sein Bett, um zu warten.

 

Ira steht an ihrem Fenster, als Schülerin der Abschlussklasse hat sie ein Zimmer für sich allein. Sie horcht auf die sich nähernden Geräusche und späht hinunter in den Hof, der noch leer ist. Das Tor steht offen. Auch geschlossen, denkt sie, wäre es kein Hindernis. Ihr Mund lächelt, aber die Augen bleiben kalt. Auf die von draußen haben wir gewartet, aber es kommen die von drunten. Entschlossen wendet sie sich um, rafft einige Kleidungsstücke zusammen und stopft sie in ei­ne abgewetzte Leinentasche. Mit der läuft sie, die Zimmertür nicht mehr schlie­­ßend, durch den Flur und das Treppenhaus hinunter zu den Stuben der Erst­klässer. „Jan?“ ruft sie, noch während sie klopft, „Jan, schnell.“ Der Junge steckt verwundert den Kopf aus dem Türspalt.

„Ich muss weg.“

„Wie, weg?“

„Ganz weg, Jan. Kommst du mit?“

Zu ihrer Erleichterung fragt der Junge gar nicht weiter, sondern nickt einfach.

„Du hast eine Minute.“

Er nickt nochmals und geht packen. Auch er hat nicht viel.

Ira, dunkel im dunklen Flur, wartet reglos.

Vom Hof her Quietschen, Klappern, Rufen.

Wohin gehen wir? Oft hat sie sich das gefragt, aber noch nie hat sie wirklich entscheiden müssen. „Jedes Wohin beginnt mit Woweg“. Gertrude die Kon­fu­se.

Da steht Jan vor ihr, der die Stubentür lautlos zugezogen hat.

„Lyras Oxford?“ flüstert er, tatsächlich mit in der Dunkelhaut leuchtenden Augen, und legt sich seinen löchrigen Seesack über die Schultern.

Er hält es für ein Abenteuer, denkt Ira. Verfolgung als Abenteuer. Frag mal die Verfolgten, was sie davon halten.

„Nein“, sagt sie mit fester Stimme. „Zu viel Technik, die wir nicht ver­stehen. Gont ist ein guter Ort. Gont in Erdsee.”

Vom Treppenhaus her hört man gestiefeltes Stampfen.

Wozu hat man hier was gelernt? Ira nimmt Jan fest bei der Hand und wie­derholt, was sie zuletzt gesagt hat.

(Aus: Literatur verstehen - wozu eigentlich? 55 Antworten, hrsg. v. Nikola Roßbach. Hamburg: Igel 2014, S. 11-24.)

 

Weitere  bereits publizierte Kapitel aus dem Projekt Alternative Weltgeschichte:

Diese Sprache lernen: eine Geschichte. In: Kellermann, Ingrid/Ferrin, Nino (Hrsg.): Narrative Räume für das Denken in Möglichkeiten. Tübingen: Stauffenberg 2023, 25-33.

Gute Werke. In: Cumart, Nevfel (Hrsg.): Im Winter der Zeit. Literatur aus Franken. Bamberg: edition hübscher 2017, 13-20.

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